Flüchtlingsstrom: Gut oder schlecht für die Logistik?
Eineinhalb Millionen – das ist die Zahl, die durch die Tagespresse geistert und die angespannte Stimmung weiter anheizt. 1,5 Millionen Menschen mehr – die essen und trinken wollen, ein Dach über dem Kopf suchen, Kleider und Möbel kaufen und für all das auch einen Job brauchen. Was wirklich an dieser Zahl dran ist und wie oft sie in den nächsten Wochen noch nach unten oder oben korrigiert wird, kann heute noch niemand abschätzen. Klar ist aber: Unsere Gesellschaft wird wachsen – und das sehr plötzlich. Ist das nun gut oder schlecht für die deutsche Wirtschaft? Und was bedeutet das für die Logistikbranche?
Im Moment bedeutet der Flüchtlingsansturm auf Deutschland Verunsicherung, Überforderung, Kapazitätsengpässe – und vor allem chaotische Zustände. Auch die Logistikbranche ist davon betroffen, wenn Flüchtlinge versuchen, von einem Staat zum nächsten zu kommen – ob über den See- oder Landweg. Handelsschiffe müssen ihre Fahrt unterbrechen, um Schiffbrüchige zu retten. Und die Reeder fürchten, wegen der Rettungseinsätze ihre Charterverträge nicht einhalten zu können. LKW-Fahrer werden unfreiwillig zu illegalen Schleppern, wenn Flüchtlinge auf die Trailer springen oder sich im Laderaum verstecken, um über die Grenzen zu kommen. Für die Logistik ein unhaltbarer Zustand, der die Lieferketten massiv beeinträchtigt.
Potenzial für den Arbeitsmarkt?
Allerdings haben die vergangenen Wochen gezeigt, dass die Logistikbranche auch auf Gewinn durch die Zuwanderung hofft. So sieht die Branche in den Flüchtlingen großes Potenzial, um ihrem Fachkräftemangel zu begegnen. Im Rahmen der DVV-Aktion „Logistik geht voran“ haben Logistikunternehmen innerhalb weniger Wochen 440 Stellen speziell für Flüchtlinge angemeldet. Darüber hinaus werden mittlerweile viele Unternehmen selbst aktiv und starten Initiativen, um gezielt Flüchtlinge anzuwerben und ihnen die Jobmöglichkeiten in der Logistik aufzuzeigen. Vor allem bei den Berufskraftfahrern ist der Bedarf groß. 230.000 der aktuell rund 650.000 LKW-Fahrer sind 50 Jahre und älter – und junge Leute rücken nicht in ausreichender Zahl nach.
Die Mehrheit der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, ist hingegen jung. Das bestätigt Hans-Werner Sinn, Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo): „Die Altersstruktur der Flüchtlinge ist ideal. Die meisten sind erst Anfang 20.“ Auch Christian Kille vom Institut für angewandte Logistik an der Hochschule Würzburg geht davon aus, dass das Problem des demografischen Wandels durch Zuwanderung gelöst werden kann: „Und das nicht nur bei den Fachkräften, sondern auch bei der Rente.“
Von Diversität profitieren
Zudem sollte die Stärkung der kulturellen Vielfalt innerhalb eines Unternehmens nicht unterschätzt werden, betont Anja Katrin Orth, Referentin im Kompetenzfeld Bildung, Zuwanderung und Innovation am Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Ähnlich fasst es auch Tanja Velmer, Senior Manager bei der Unternehmensberatung KPMG, zusammen: „Diversität macht erfolgreich. Je größer die Mischung der Mitarbeiter eines Unternehmens ist, desto besser können sie sich mit Ideen und unterschiedlichen Perspektiven ergänzen. Dadurch entsteht hohe Produktivität.“
All das wird aber nicht von heute auf morgen passieren. Bis es tatsächlich zur Einstellung von Flüchtlingen kommen kann, wird noch einige Zeit ins Land gehen. „Die Integration wird teuer und viele Jahre dauern. Die Erfahrung zeigt, dass in den ersten beiden Jahren wohl 90 Prozent aller anerkannten Flüchtlinge arbeitslos sein werden, nach fünf Jahren könnten es noch 50 Prozent sein“, schätzt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).
„Zudem deuten bisherige Untersuchungen darauf hin, dass 71 Prozent der Personen aus Kriegs- und Krisenländern über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen“, argumentiert Orth. Die Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) relativieren vorschnelle Hoffnungen auf einen florierenden Arbeitsmarkt durch Zuwanderung. Demnach sind 22 Prozent der Flüchtlinge ohne Hauptschulabschluss. Von den fehlenden Sprachkenntnissen ganz zu schweigen.
Auf eine weitere bürokratische Hürde macht Sinn aufmerksam: den Mindestlohn. „Die derzeitige Lohnuntergrenze von 8,50 EUR verhindert jetzt eine normale Marktreaktion. Ohne die Senkung des Lohns für einfache Tätigkeiten wird es keine zusätzlichen Arbeitsplätze geben.“ Auch Fratzscher glaubt, dass mit der Zuwanderung schwierige Fragen auf die Gewerkschaften zukommen: „Viele ihrer Errungenschaften könnten unter Druck geraten.“
In Integration investieren
Also doch keine guten Aussichten für den Arbeitsmarkt in der Logistik? Ganz so schwarz sollte das Bild sicher nicht gezeichnet werden. Sofern die Unternehmen bereit sind, in den Integrationsprozess mit all seinen Hindernissen zu investieren, sollte zumindest ein Teil der Flüchtlinge in der Logistik einsetzbar sein. Dafür müssen aber zunächst die bürokratischen Hürden des Asylverfahrens bewältigt werden. Und die Flüchtlinge müssen die Grundvoraussetzungen erfüllen, um auf dem deutschen Arbeitsmarkt eine Chance zu haben.
Der Weg zum Kraftfahrer
Wer Berufskraftfahrer werden will, muss in Deutschland eine besondere Qualifikation nachweisen. Sie wird mit einer Prüfung vor der Industrie- und Handelskammer nachgewiesen und kann auf drei verschiedene Arten erworben werden. Für Flüchtlinge bietet sich die „beschleunigte Grundqualifikation“ an: Sie wird dadurch erworben, dass der Fahrer an einer Schulung von 140 Stunden (zu jeweils 60 Minuten) bei einer anerkannten Ausbildungsstätte teilnimmt und eine theoretische Prüfung (Dauer 90 Minuten) vor der IHK ablegt. Eine Fahrerlaubnis muss für die beschleunigte Grundqualifikation nicht vorliegen. Die Prüfungssprache ist Deutsch.
Für die Tätigkeit als Berufskraftfahrer wird zudem ein Führerschein der Klasse C benötigt. Das Mindestalter dafür liegt bei 21 Jahren. Verfügt ein Flüchtling bereits über einen ausländischen Führerschein, kann er diesen beim Landesbetrieb Verkehr umschreiben lassen. Schwieriger als das Bestehen der Führerscheinprüfung wird für die Flüchtlinge aber vermutlich die beschleunigte Grundqualifikation, für die Deutschkenntnisse benötigt werden. Deshalb bietet die Straßenverkehrsgenossenschaft (SVG) Hamburg seit 2012 Qualifizierungen mit vorgelagertem Deutschkurs an, der berufsspezifische Inhalte vermittelt. Die Qualifizierung zum LKW-Fahrer dauert hier mit vorgelagertem Deutschkurs zum Beispiel 31 Wochen. Eine Maßnahme kostet pro Person zwischen 6000 und 12.000 EUR. Zur Finanzierung werden nach Angaben der SVG Hamburg derzeit Fördermöglichkeiten mit zahlreichen Institutionen geprüft.
Boom in der Baubranche?
Neben dem Potenzial für den Arbeitsmarkt könnte die deutsche Wirtschaft aber auch in vielen weiteren Bereichen von der wachsenden Gesellschaft profitieren. Denn die Flüchtlinge brauchen nicht nur Arbeit, sondern auch Wohnraum und Konsumgüter zum Leben. „Allein in diesem Jahr rechnen wir mit einer Nettozuwanderung von einer halben Million Menschen. Deshalb brauchen wir mindestens 300.000 neue bezahlbare Wohnungen pro Jahr“, argumentiert der stellvertretende Bundesvorsitzende der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau), Dietmar Schäfers. Kille geht in seiner Rechnung von 250.000 Wohnungen pro Jahr aus, die dann auch der Logistikbranche neue Aufträge bescheren. „Der Bedarf an Wohnraum würde vermutlich mindestens 5 Mrd. EUR an Logistikaufwendungen bedeuten“, ergänzt er. Und empfiehlt gleichzeitig, besser eine Verzögerung von mindestens einem Jahr einzukalkulieren, weil für diesen Bauboom die Kapazitäten fehlen könnten – bei Handwerkern, aber beispielsweise auch bei LKW.
Einen kurzfristigen Aufschwung für die Logistik erwartet Kille beim Flüchtlingsthema allerdings auch: weil die Branche maßgeblich in die Versorgung der zu uns geflüchteten Menschen eingebunden sein wird. Volkswirtschaftlich sind die Flüchtlinge auf jeden Fall ein Gewinn für Deutschland, ist Fratzscher überzeugt: „Nach unseren Berechnungen erwirtschaftet ein Flüchtling nach fünf bis sieben Jahren mehr, als er den Staat kostet.“
Foto: Patrick Lux